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KI-Patientensimulator im Anamnesetraining

Untersuchung zur Akzeptanz und zum didaktischen Potenzial eines KI-gestützten Simulationssystems in der Physiotherapie.

Arne Brödel, M.Sc.
Arne Brödel, M.Sc.
Autor
5 Min. Lesezeit
Medical EducationKünstliche IntelligenzMixed-MethodsAIDUAAnamnese

Beteiligte Personen

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Forschungsübersicht

Veröffentlichung: Ein Abstract dieser Studie wurde in der Fachzeitschrift physioscience (Thieme Verlag) veröffentlicht.
DOI: 10.1055/s-0045-1811275

Hintergrund und Relevanz

Die strukturierte Anamnese stellt eine fundamentale Kernkompetenz im klinischen Reasoning und der diagnostischen Entscheidungsfindung in der Physiotherapie dar. Traditionelle Lehrformate stehen jedoch häufig vor der Herausforderung, ausreichend authentische und beliebig wiederholbare Übungssituationen zur Entwicklung dieser Kompetenz bereitzustellen. Während Rollenspiele und der Einsatz von Simulationspatient:innen wertvolle Lernerfahrungen bieten, sind diese Ansätze ressourcenintensiv, zeitlich begrenzt und weisen oft eine geringe Standardisierung für eine systematische Kompetenzentwicklung auf.

Die rasanten Fortschritte im Bereich der generativen Künstlichen Intelligenz (KI), insbesondere bei Large Language Models (LLMs), eröffnen neue Perspektiven für die medizinische Ausbildung. Trotz des wachsenden Interesses an KI-gestützten Lernumgebungen mangelt es bisher an empirischer Evidenz zur Akzeptanz, User Experience und den didaktischen Potenzialen von konversationeller KI in der Ausbildung von Gesundheitsberufen – insbesondere im deutschsprachigen Raum und im Kontext der Physiotherapie.

Forschungsziele

Die vorliegende Studie adressiert diese Forschungslücke durch die Entwicklung und empirische Evaluation eines deutschsprachigen, KI-basierten Patientensimulators für das Anamnesetraining. Im Mittelpunkt standen dabei drei zentrale Forschungsfragen:

  1. Akzeptanz: Wie bewerten approbierte Physiotherapeut:innen den Einsatz einer KI-basierten Patientensimulation als Trainingsmethode?
  2. User Experience: Welche Erfahrungsdimensionen prägen die Interaktion mit konversationeller KI in der klinischen Kompetenzentwicklung?
  3. Didaktisches Potenzial: Welche didaktischen Potenziale und Limitationen ergeben sich aus der KI-gestützten Simulation für das Anamnesetraining unter Berücksichtigung technischer, didaktischer und ethischer Implikationen?

Theoretischer Rahmen

Als theoretisches Fundament für die Untersuchung der Technologieakzeptanz diente das AIDUA-Modell (Artificially Intelligent Device Use Acceptance). Dieses Modell erweitert klassische Akzeptanztheorien um erlebnisorientierte und affektive Dimensionen, die für die Interaktion mit KI-Systemen von besonderer Relevanz sind, und ermöglicht so eine umfassende Analyse der Einflussfaktoren auf die Adoptionsbereitschaft im professionellen Bildungskontext.

Systemarchitektur und Implementierung

Technisches Design

Der KI-Patientensimulator wurde als webbasierte Anwendung auf Basis von Python und dem Streamlit-Framework realisiert. Die Anbindung an die OpenAI Chat Completions API (Modell: gpt-4-preview) bildete das Herzstück der Interaktionsschleife. Die Architektur wurde so konzipiert, dass sie einen niederschwelligen Zugang mit technischer Präzision für realistische Patient:innen-Therapeut:innen-Dialoge kombiniert.

Zentrale Systemkomponenten:

  1. Falldatenbank: Entwicklung von fünf differenzierten virtuellen Patientenfällen mit muskuloskelettalen Beschwerdebildern. Jeder Fall basiert auf einem strukturierten Datenschema, das die Anamnese, Symptomatik, psychosozialen Kontext sowie Persönlichkeitsmerkmale und Sprachstil definiert.
  2. Conversational AI Engine: Durch gezieltes Prompt Engineering wurden die LLM-Instanzen so konfiguriert, dass sie die definierten Patientenrollen konsistent und kontextsensitiv verkörpern. Dies ermöglicht dynamische Gespräche, die präzise auf die Fragestellungen der Anwender:innen reagieren.
  3. Automatisiertes Feedback-System: Ein virtueller Tutor analysiert nach Gesprächsabschluss den Dialogverlauf und gibt strukturiertes Feedback zur Gesprächsführung, Informationsdichte und klinischen Logik.

Design-Rationale

Das minimalistische Interface-Design verfolgte konsequent das Ziel, kognitive Überlastung (Cognitive Load Theory) zu vermeiden und die volle Aufmerksamkeit auf die sprachliche Struktur und Präzision der Anamnese zu lenken, anstatt auf die Bedienung der Software.

Methodik

Studiendesign

Die Evaluation wurde als explorative Mixed-Methods-Studie im parallelen konvergenten Design durchgeführt. Dieser Ansatz ermöglichte eine Triangulation quantitativer Akzeptanzwerte mit vertiefenden qualitativen Protokollen, um ein ganzheitliches Bild der Nutzungserfahrung zu zeichnen.

Stichprobe und Datenerhebung

An der Studie nahmen 22 examinierte Physiotherapeut:innen aus Deutschland teil. Die Stichprobe zeichnete sich durch eine hohe Berufserfahrung aus; der Großteil der Teilnehmenden war über 40 Jahre alt. Zudem bestand bei der Mehrheit nur geringe Vorerfahrung mit generativer KI, was wertvolle Erkenntnisse über die Akzeptanz bei erfahrenen Praktiker:innen lieferte.

Die Datenerhebung erfolgte über:

  • Quantitativ: Online-Fragebogen mit validierten 5-Punkt Likert-Skalen zur Messung der AIDUA-Konstrukte.
  • Qualitativ: Ergänzende Think-Aloud-Protokolle während der Bearbeitung des Fragebogens zur Begründung und Vertiefung der Antworten sowie offene Freitextfelder zur Identifikation tiefergehender Nutzerbedürfnisse.

Ergebnisse und Erkenntnisse

Quantitative Ergebnisse: Hohe Technologieakzeptanz

Die quantitative Analyse zeigte eine überdurchschnittlich hohe Akzeptanz des KI-Patientensimulators. Die Teilnehmer:innen bewerteten das System als innovativ, motivierend und gut bedienbar. Besonders hervorgehoben wurde der hohe wahrgenommene Nutzen für die Entwicklung diagnostischer Kompetenzen. Interessanterweise übertraf der empfundene Realismus der Interaktion die Erwartungen der Teilnehmer:innen deutlich, trotz der rein textbasierten Oberfläche.

Qualitative Erkenntnisse: Didaktische Potenziale und Limitationen

Die Inhaltsanalyse der Protokolle identifizierte zentrale Stärken und Herausforderungen:

Identifizierte Stärken:

  • Sicherer Lernraum: Die Möglichkeit, in einem wertungsfreien Raum Fehler zu machen und Fragenformulierungen zu experimentieren.
  • Beliebige Wiederholbarkeit: Unabhängigkeit von zeitlichen und personellen Ressourcen (Simulationspatient:innen).
  • Unmittelbares Feedback: Die sofortige Rückmeldung des virtuellen Tutors fördert die Reflexion des eigenen Handelns.
  • Fokus auf sprachliche Präzision: Zwang zur klaren Strukturierung und präzisen Formulierung durch das Textmedium.

Limitationen:

  • Fehlende nonverbale Kommunikation: Wegfall von Mimik, Gestik und körperlicher Untersuchung schränkt die Echtheit des Gesamteindrucks ein.
  • Datenschutz und Ethik: Bedenken hinsichtlich des Einsatzes kommerzieller KI-Modelle im Gesundheitswesen wurden adressiert.
  • Medizinische Plausibilität: Vereinzelt auftretende Inkonsistenzen in KI-Antworten unterstreichen die Notwendigkeit einer fachlichen Supervision.

Diskussion und Implikationen

Theoretischer Beitrag

Die Studie liefert wichtige empirische Belege für die Anwendbarkeit des AIDUA-Modells im Bereich der digitalen Gesundheitsbildung. Sie zeigt, dass neben funktionalen Aspekten (Nützlichkeit) vor allem das Interaktionserlebnis maßgeblich für die Akzeptanz neuer KI-Technologien in der Physiotherapie ist.

Praktische Implikationen für die Lehre

Der KI-Patientensimulator empfiehlt sich als wertvolles Ergänzungsinstrument im “Blended Learning”-Mix. Er dient idealerweise als Brückenelement zwischen theoretischem Wissen und dem ersten realen Patient:innenkontakt, um Basiskompetenzen im geschützten Rahmen zu festigen.

Fazit

Die Studie zeigt, dass KI-gestützte Patientensimulationen eine sinnvolle Ergänzung bestehender Lehrmethoden darstellen können. Die Kombination aus technischer Systementwicklung und empirischer Evaluation liefert wertvolle Erkenntnisse für die Weiterentwicklung digitaler Lernumgebungen in den Gesundheitsberufen.

Forschungs-Prototyp

Der in der Studie verwendete Prototyp steht zu Demonstrationszwecken weiterhin zur Verfügung. Die Anwendung entspricht nahezu exakt dem Zustand während der Studiendurchführung, lediglich das Einverständnisformular wurde entfernt. Zudem wurde als Basismodell das kostengünstigere GPT-4o-mini integriert, um den dauerhaften Betrieb zu gewährleisten. Bitte beachten Sie, dass der Zugang aufgrund der API-Betriebskosten dennoch limitiert ist.

Bei Interesse an einer Demonstration oder wissenschaftlichen Kooperation kontaktieren Sie mich bitte unter: arne@update.health

Open Science und Reproduzierbarkeit

Quellcode-Verfügbarkeit

Im Sinne von Open Science wurde der gesamte Quellcode des KI-Patientensimulators unter einer Open-Source-Lizenz auf GitHub veröffentlicht:

https://github.com/update-health/AnamneseTrainerV1

Das Repository enthält die vollständige Implementierung inklusive:

  • Falldatenstrukturen und Prompt-Templates
  • Anbindung der Conversational AI Architektur
  • Logik des automatisierten Feedback-Systems

Ich lade Forscher:innen und Lehrende ausdrücklich dazu ein, diesen Code als Basis für eigene Weiterentwicklungen oder Replikationsstudien zu nutzen.